Fotos beurteilen: Warum Distanz wichtiger ist als Talent.
Manchmal schicken mir Teilnehmer Fotos, die sie über alles lieben. Sie schreiben dazu:
„Ich weiß, technisch ist es nicht perfekt, aber ich fühle dieses Bild.“
Und meistens stimmt das sogar. Sie fühlen etwas. Aber das Bild zeigt etwas anderes!
Einmal schrieb mir Anna: „Ich war so berührt, als ich das Foto gesehen habe – und dann sagst du, es wirkt unruhig.“
Ich kannte diesen Satz schon, hundertmal hatte ich ihn gehört. Nicht, weil Annas Gefühl falsch war – sondern weil es ein universelles Phänomen ist: Wir Fotografen sehen nicht das Foto. Wir sehen den Moment, in dem wir es gemacht haben.
Warum du dein Bild nicht siehst, sondern erinnerst
Wenn du fotografierst, bringst du immer mehr in ein Bild hinein, als darauf zu sehen ist – den Wind in der Location, den Geruch, das Licht, die Situation, manchmal auch den Menschen neben dir.
All das steckt in dir und klebt an dem Foto.
Du glaubst, du siehst das Bild – aber in Wahrheit siehst du die Erinnerung daran.
Und deshalb hast du diesen Moment, in dem du am nächsten Tag auf dein Foto schaust und plötzlich merkst:
Gestern war das magisch. Heute wirkt es unentschieden …
In Wirklichkeit hat sich das Bild nicht verändert – du hast dich verändert:
Ein bisschen Distanz hat den Nebel gelichtet.

Der innere Nebel
Zwischen dir und deinem Bild liegt etwas Unsichtbares.
Es ist kein Schleier aus Rauch oder Emotion, sondern aus Nähe.
Je näher du dran bist, desto weniger siehst du.
Ich merke das in jeder Bildbesprechung der Workclass.
Ein Teilnehmer zeigt ein Foto – liebevoll komponiert, klar gegliedert – und ich frage:
„Was wolltest du zeigen?“
Dann sagt er: „Na, die Ruhe des Sees.“
Aber das Bild zeigt Boote, Menschen, Spiegelungen, ein wolkenvolles Himmelmeer – alles gleichzeitig.
Die Ruhe war in ihm, nicht im Bild!
Wenn du den Moment noch fühlst, siehst du nicht, was dein Foto zeigt.
Erst wenn der Moment verblasst, erkennst du, was wirklich geblieben ist.

Fotos beurteilen: Wie Distanz entsteht
Ich rate meinen Teilnehmern oft, ihre Bilder nicht sofort zu bewerten.
Leg sie zur Seite, geh spazieren, fotografiere weiter.
Wenn du am nächsten Tag zurückkommst, siehst du sie mit anderen Augen.
So ein zweiter Blick ist gnadenlos ehrlich – aber auch unglaublich lehrreich.
Einmal schickte mir Martin ein Bild, das er am Vorabend im Fotoclub stolz präsentiert hatte: eine Frau im Gegenlicht, Silhouette, goldener Abend. Er bekam auch von mir ein Feedback zu diesem Foto.
Ein paar Tage später schrieb er: „Ich glaube, du hattest in deinem Feedback recht – sie verliert sich im Hintergrund.“
So war es: Der Zauber des Moments war weg, aber das Sehen war nun da.
Distanz ist kein Misstrauen gegenüber deiner Intuition.
Sie ist ihr Korrektiv.
Der blinde Fleck der Erfahrung
Viele glauben, Routine mache besser.
Das stimmt – aber nur bei der Technik (s. DeepDive vom Oktober) und gestalterisch nur bis zu einem gewissen Punkt.
Danach macht sie blind.
Wer lange fotografiert, hat sein inneres Raster: Lieblingsfarben, typische Ausschnitte, vertraute Brennweiten.
Das sind sichere Wege, aber sie engen auch den Blick ein.

In den 29 Jahren, die ich Fotokurse gebe, sah ich oft, dass Fortgeschrittene viel schwerer loslassen als Anfänger.
Sie wissen, wie man ein gutes Bild macht – und gerade das steht ihnen im Weg.
Eines Tages im Workshop sagte ich zu Jens: „Mach dasselbe im Hochformat.“ Ich zeigte ihm genau, wie.
Am nächsten Tag bekam ich eine E-Mail mit dem neuen Bild: „Jetzt verstehe ich, warum du das wolltest. Plötzlich habe ich nicht mehr so viel Hintergrund drauf – und das Bild ist viel stärker geworden!“
Das war kein Zufall.
Das war Klarheit, die durch Distanz entstanden ist.
Fotos beurteilen: Warum Feedback wie frische Luft wirkt
Der einfachste Weg, den inneren Nebel zu lichten, ist Feedback.
Echte Rückmeldung, nicht der unnütze Applausismus in den sogenannten sozialen Medien.
In der Workclass beginnen unsere gemeinsamen Bildbesprechungen manchmal mit meiner Frage: „Was seht ihr zuerst?“
Ein Teilnehmer sagt dann: „Den hellen Fleck links unten.“
Und der Fotograf starrt auf sein Bild und sagt: „Den hab ich gar nicht gesehen.“ – und ärgert sich!
Das ist der Moment, in dem wirkliches Sehen passiert.
Feedback ist keine Bewertung.
Es ist Sauerstoff.
Es bringt Frische in dein eigenes Denken, weil du dich durch die Augen anderer siehst.
Wenn zehn Menschen dieselben Fotos beurteilen, entsteht etwas, das du allein nie erreichen würdest: ein kollektiver Blick.
Und der ist immer schärfer als deiner.

Fazit – Der Weg aus dem Nebel
Klarheit in der Bildgestaltung beginnt nicht bei der Komposition, sondern bei der Fähigkeit, dich selbst zurückzunehmen.
Solange du mitten im Moment stehst – mit all den Gerüchen, Geräuschen, Erinnerungen –, bleibt dein Blick vernebelt. Erst wenn du heraustrittst, erkennst du, was wirklich im Bild geschieht.
Distanz ist keine Entfremdung. Sie ist der Moment, in dem du dein eigenes Sehen beginnst zu verstehen.
Doch Distanz allein reicht nicht aus. Du musst auch wissen, was du mit ihr anfängst.
Was als Nächstes kommt
Im nächsten Artikel dieser Serie geht es darum, wie du auch in komplexen, lauten Szenen Klarheit bewahrst –
also dort, wo Reduktion nicht möglich ist.
Und wenn du bis hierher gespürt hast, dass du anders als bisher deine Fotos beurteilen willst,
dann ist der DeepDive im November die natürliche Fortsetzung.
Dort geht es nicht mehr um Distanz, sondern um das aktive Gestalten von Klarheit –
um den Moment, in dem du sie bewusst erzeugst.
Kein Druck, kein Zwang.
Nur der nächste Schritt, wenn du fühlst, dass du ihn gehen willst.
Und nun du: Hinterlasse mir einen Kommentar, wenn dir dieser Artikel die Augen geöffnet hat. Du weißt, dein Kommentar ist mein Treibstoff für weitere solcher Blogartikel!

Hallo Karsten,
bisher war ich überwiegend im Bereich People- und Eventfotografie unterwegs und habe mir damit ein Zubrot verdient.
Aktuell bin ich dabei mich in den Bereich Street- und Landschaftsfotografie reinzufuchsen.
was mir dabei in der Tat schon aufgefallen ist. Wähle ich Bilder zur Optimierung zeitnah nach der Aufnahme aus, stelle ich mir bei erneuter Betrachtung nach ein paar Tagen die Frage: Warum hast du das gewählt? Da fehlt doch das, was du vermitteln wolltest.
Somit gibt es bei mir nun eine Erstbetrachtung und mit etwas zeitlichem Abstand, den zweiten Blick zur finalen Auswahl.
Hallo Erich,
interessant, dass du genau in dieser Umbruchphase bist! Der Wechsel von People/Event zu Street und Landschaft ist tatsächlich eine ziemliche Umstellung – nicht nur technisch, sondern vor allem in der Art, wie du Bilder bewertest.
Bei People und Events hattest du klare Kriterien: Ist die Person scharf? Guter Gesichtsausdruck? Technisch sauber? Fertig. Da funktioniert die schnelle Auswahl direkt nach dem Shooting meistens ganz gut, weil die Anforderungen relativ eindeutig sind.
Bei Street und Landschaft wird’s komplexer. Da geht es plötzlich um Stimmung, um das Unausgesprochene, um subtile Kompositionen und die Frage: Was erzählt das Bild wirklich? Und genau das siehst du oft erst mit zeitlichem Abstand. Direkt nach der Aufnahme bist du noch zu sehr im Moment drin, noch begeistert vom Erlebnis oder der Situation. Erst nach ein paar Tagen kannst du nüchtern beurteilen: Transportiert das Bild tatsächlich das, was ich sagen wollte?
Deine Strategie mit Erstbetrachtung und zweitem Blick ist absolut richtig. Viele erfahrene Fotografen machen das genauso – manche lassen sogar noch länger Zeit vergehen. Die Bilder, die nach Tagen oder Wochen immer noch funktionieren, sind meistens die wirklich starken.
Also: Lass dir die Zeit. Gerade in deiner neuen fotografischen Richtung ist dieser zweite Blick Gold wert! 🙂
der Karsten
Hallo Karsten
Danke für den Tipp nach dem Fotografieren die Bilder später anzusehen. Ich dachte schon, ich wäre sonderbar, weil ich es oft so mache.
Oft würde ich dann noch einmal losziehen und nocheinmal alles neu aufnehmen. Leider klappt das nicht oft. Also bleibe ich dran den Moment zu nutzen und zu üben. üben, das was mein Bild ist mit der Kamera einzufangen.
viele Grüße
Johannes
Hallo Johannes,
nein, du bist überhaupt nicht sonderbar – im Gegenteil! Das zeigt, dass du reflektiert arbeitest und verstanden hast, wie wichtig Abstand zum eigenen Werk ist.
Und ja, der Impuls „Ich würde am liebsten nochmal losziehen und alles neu machen“ ist total nachvollziehbar. Genau das Gefühl kennt jeder Fotograf. Das Problem ist nur: Der Moment ist weg. Das Licht, die Stimmung, die Situation – alles einzigartig und nicht wiederholbar. Deshalb ist es tatsächlich wichtiger, im Moment selbst schon möglichst bewusst zu arbeiten.
Dein Plan ist genau richtig: Dranbleiben, üben, den Moment nutzen. Mit jedem Mal wirst du besser darin, schon beim Fotografieren zu spüren, was dein Bild ist und wie du es einfängst. Diese Fähigkeit entwickelt sich mit der Zeit – durch Erfahrung, durch Fehler, durch die Erkenntnis „Ah, beim nächsten Mal mache ich es so“.
Die spätere Bildbetrachtung ist dann nicht mehr nur Qualitätskontrolle, sondern auch Training: Du lernst aus jedem Shooting, was funktioniert hat und was nicht. Und beim nächsten Mal hast du es schon intus.
Also: Weiter so, du machst das genau richtig! 🙂
der Karsten
Distanz hört sich aber auch nach Abgeklärtheit an. Nach Routine. Nach einer bestimmten Vorgehensweise, damit „man das Bild im Kasten hat“. In DEM Moment, wo der Fotograf sein Foto komponiert und entdeckt hat, da ist SEIN Moment. Er kann seine Geschichte dazu erzählen und so versuchen, den Betrachter in seinen Bann zu ziehen und ihn an dem gefühlten Moment teilhaben lassen. Klar erreicht man ein besseres Nachvollziehen, wenn man bestimmte Regeln beachtet, aber ich finde, man sollte auch nicht starr daran festhalten. Da fallen mir Reels in social media ein: Mit Musik unterlegt, können sie eine Stimmung den Betrachter viel besser nachvollziehen lassen ( allerdings kann man mit Musik auch bestimmte Stimmungen erzeugen wollen – man denke an Filmmusik ) und so gehört eine Geschichte in Textform für Bilder auch dazu, um den Betrachter das Erlebte nachvollziehen zu lassen. Dieser „7 Sekunden“ Spruch ist ja ganz nett, aber wenn ich will, – behaupte ich mal kühn – kann ich auch so ziemlich jedes preisgekrönte Foto ohne weitere Informationen zu haben, zerlegen. Zum Beispiel: Ich habe gegoogelt „ preisgekrönte Fotos, Kinder, Krieg“. Die Ergebnisse habe ich dann nach Bildern sortiert und bin dann auf den Link gegangen https://www.slavistik.uni-muenchen.de/aktuelles/archiv/fotoausstellung/index.html. Das Kind mit den zusammengekniffenen Augen. – Wenn ich nicht nach den Worten gegoogelt und den unter dem Bild stehenden Text hätte übersetzen lassen – dann könnte das auch ein Bild eines Mädchens sein, das gerade etwas Saures gegessen hat und dann das Gesicht zusammengezogen hat.
Also ich halte Distanz in einem gewissen Rahmen für sinnvoll, aber man sollte es damit auch nicht übertreiben.
Interessante Gedanken.
Meine Sicht dazu.
Es ist ein Unterschied ob Du ein Bild für dich machst – das Bild und Deine Erinnerung, da gehört die Nähe dazu.
Wenn Du ein Bild für andere machst ist ein distanzierter Blick sehr hilfreich wirklich zu zeigen was Du vermitteln willst und weg lässt was die Aufmerksamkeit des Betrachters ablenkt. Das Bild soll es zeigen, nicht die Erklärung (mündlich oder als Bildunterschrift). Bei solchen Bilder kann auch zu wenig auf dem Bild sein, dann fehlt der Kontext – wie bei dem Bild im Link.
Oder man macht Bedeutungsoffene Bilder (Die eine Geschichte „erzählen“.) die die Phantasie des Betrachter anregen sollen.
Ja, für Bilder von einer Podiumsdiskussion braucht man eine nüchtern Distanz. Da geht es um Schnelligkeit, da müssen die Bilder für die Presse am nächsten Morgen da sein!
Da muss man schnell aussortieren können, Typische Bilder finden, Interaktionen bei denen keiner einen unvorteilhaften Gesichtsausdruck hat, technische Qualität checken, beschneiden, verschlagworten, Bildunterschrift drunter, fertig und abschicken.
Ja, es ist ein eher technisches, seelenloses vorgehen, zu den Bildern habe ich auch keine besondere Beziehung. Die Bilder sind bestimmt nicht preisverdächtig! Ein Fotograf sagte mal zu mir: Es gibt gute Bilder, Bilder die man verkaufen kann und Bilder die gelöscht werden. Für solche Zwecke reicht eine „Verkaufsqualität“.
Moin Ingo,
genau, du hast das System verstanden! Bei Event- und Pressefotografie geht es nicht um die emotionale Bindung oder das eine preisgekrönte Meisterwerk. Es geht um Funktionalität, Geschwindigkeit und Verlässlichkeit. Die Bilder müssen liefern, was gebraucht wird – und zwar pünktlich.
Dieser Spruch von deinem Kollegen trifft es perfekt: „Es gibt gute Bilder, Bilder die man verkaufen kann und Bilder die gelöscht werden.“ Bei Pressefotografie bist du in der Mitte unterwegs – Verkaufsqualität. Technisch sauber, inhaltlich brauchbar, niemand mit Grimasse, fertig. Das ist kein Künstlertum, das ist Handwerk. Und genau das ist auch völlig in Ordnung so.
Die nüchterne Distanz ist dabei sogar ein Vorteil. Wenn du anfängst, dich emotional an jedes Bild zu hängen oder stundenlang zu überlegen, ob das jetzt DAS perfekte Foto ist, bist du bei so einem Job verloren. Dann verpasst du die Deadline, und die Presse hat am nächsten Morgen nichts zu drucken.
Es ist wichtig, diese unterschiedlichen Modi zu haben: Für manche Projekte bist du der Künstler, der Geschichten erzählt und Emotionen einfängt. Für andere bist du der Dienstleister, der zuverlässig abliefert. Beides hat seinen Platz – und beides ist professionell.
Also: Nicht jedes Bild muss die Welt verändern. Manchmal reicht es, wenn es morgen in der Zeitung steht.
der Karsten
Hallo Thomas,
du sprichst einen ganz wichtigen Punkt an – und ich finde deine Einwände absolut berechtigt.
Distanz meint in meinem Artikel nicht Abgeklärtheit oder kühle Routine. Sondern eine Art innerer Abstand, der es dir ermöglicht, zu sehen, was du fotografiert hast – nicht nur, was du gefühlt hast. Gerade nach dem Moment.
Denn wie du selbst beschreibst: In dem Moment des Fotografierens fühlt der Fotograf sehr viel. Und genau das ist wunderbar! Es ist sogar oft der Motor für starke Bilder. Nur: dieses Gefühl überträgt sich nicht automatisch auf den Betrachter. Der kennt weder den Ort, noch das Licht, noch die Geschichte hinter dem Moment. Genau deshalb hilft es, später mit einem klareren Blick auf das Bild zu schauen – so, wie es ein Außenstehender sehen würde.
Das ist übrigens nicht das Gegenteil von Emotion. Sondern im besten Fall eine zweite Phase:
Erst spüren, dann gestalten.
Dass Texte, Musik oder begleitende Geschichten eine wichtige Rolle spielen, ist absolut richtig. In Bildserien, Ausstellungen, Buchprojekten oder Reels funktionieren sie hervorragend. Aber in einem einzelnen Bild – ohne Kontext – muss die Botschaft oft allein visuell funktionieren. Und genau hier hilft es, wenn man lernt, visuell zu kommunizieren.
Dein Beispiel mit dem preisgekrönten Foto und dem Kind zeigt genau diesen Punkt:
Ohne Kontext bleibt die Deutung offen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Gute Bilder lassen Raum für Interpretation – aber sie schaffen es eben auch, ohne Worte zu berühren.
Deshalb plädiere ich nicht für ein starres Regelwerk oder einen emotionslosen Zugang.
Sondern für beides: Gefühl beim Aufnehmen, und ein wacher, reflektierter Blick beim Auswählen.
Danke für deinen durchdachten Kommentar – genau solche Diskussionen machen Fotografie lebendig.
Viele Grüße,
der Karsten
Danke für den erhellenden Artikel.
Im Kundenbereich einer großen Firma habe ich eine Bild gesehen bei dem auf dem Oberarm einer Frau blaue Flecken waren – nein es waren keine blauen Flecken, es waren Objekte in der Vordergrundunschärfe!
Ja, beim fotografieren kann man so etwas übersehen.
Jetzt verstehe ich, der Fotograf war „blind“.
Kann mir vorstellen, dass es ein aufwendiges Shooting war und er ganz stolz auf die tolle Vordergrundunschärfe war und überhaupt ein klasse Bild. Doch gerade diese eigene emotionale Begeisterung hat ihn „bild“ gemacht. Hätte er genügend Distanz zu dem Bild gehabt, hätte er die blauen Flecken leicht sehen und entfernen können.
Hallo Ingo,
geniales Beispiel – und du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!
Genau DAS ist dieses „Blindwerden“ in Aktion. Der Fotograf war so fokussiert auf seine tolle Vordergrundunschärfe, auf die Komposition, auf den gelungenen Moment … dass er komplett übersehen hat, was sein Bild beim unbefangenen Betrachter auslöst: „Oh Gott, die Frau hat ja blaue Flecken!“
Das ist der Klassiker: Wir sehen, was wir meinen – nicht, was wirklich da ist.
Und ja, gerade bei aufwendigen Shootings passiert das besonders leicht. Man ist im Flow, begeistert vom Licht, von der Stimmung, vom technischen Gelingen … und übersieht dann genau solche „Kleinigkeiten“, die das ganze Bild kaputt machen können. Die emotionale Nähe zum eigenen Werk macht uns tatsächlich blind.
Noch schlimmer wird’s, wenn das Bild dann auch noch durch mehrere Instanzen geht (Bildbearbeitung, Freigabe, Druckerei) und trotzdem niemand drauf achtet. Dann steht’s plötzlich im Kundenbereich einer großen Firma – autsch! 😅
Dein Fazit ist Gold wert: Distanz gewinnen, später nochmal mit frischem Blick draufschauen, am besten jemand anderen drüberschauen lassen, der nicht im Shooting-Flow war. Der sieht die „blauen Flecken“ sofort.
Danke für die Story!
Beste Grüße! 🙂
Hallo Karsten,
warum lese ich nicht jeden Artikel: Ich bin lesefaul. Artikel mit vielen Umschreibungen werden mir schnell langweilig. Artikel mit kurzen knackigen Aussagen und Beispielsfotos mag ich.
Jetzt zu dem aktuellen Artikel. Du hast Recht, keine Eile bei der Fotobearbeitung.
Auf einer Reise werde ich keine Fotos bearbeiten, sondern erst zuhause. Fotos, die vor Ort entstanden, bearbeite ich nur bis zum psd-Format. Dann, eine Nacht schlafen und neu beurteilen bzw. bearbeiten. Erst dann entsteht ein jpg-Format.
LG Volker
Hallo Volker,
danke für deine ehrliche Rückmeldung – sowohl zum Artikel als auch zu deinem Leseverhalten. Kurz, klar, mit Beispielen: Das ist ein gutes Stichwort und motiviert mich, zukünftige Artikel noch gezielter auf den Punkt zu bringen.
Dass du dir für die Bearbeitung bewusst Zeit nimmst, klingt nach einer gesunden und reflektierten Arbeitsweise – und genau das ist ja der Kern: sich selbst ein bisschen auszubremsen, um später bessere Entscheidungen zu treffen.
Viele Grüße
der Karsten
Hallo Karsten,
guter und für mich hilfreicher Artikel, wie alle Blogbeiträge die ich bisher von Dir gelesen habe.
Ich denke, dass man immer abwägen muss, für was ein Foto gedacht ist.
Wenn ein Foto einen anderen Stellenwert einnehmen soll als Erinnerungsfotos, persönliche Fotos, Social Media oder wenn es schnell gehen muss usw. … ist Distanz wirklich hilfreich.
In der Workclass hast Du das auch schon thematisiert und in diesem Blogbeitrag gut beschrieben. Das ist für mich sehr hilfreich.
Man schaut ein Foto, meiner Erfahrung nach, jeden Tag und nach einer gewissen Distanz mit anderen Augen an.
Ich freue mich auf weitere Blogbeiträge von Dir!
Viele Grüße und weiter so…
Christian
Hallo Christian,
danke dir für deinen Kommentar – und für die feine Differenzierung. Genau das ist entscheidend: zu erkennen, welchen Zweck ein Bild erfüllen soll. Nicht jedes Foto muss „groß“ gedacht sein – aber wenn es mehr sein soll als Erinnerung oder Deko, dann braucht es eben auch einen anderen Blick. Und genau dieser Blick schärft sich mit der Zeit, mit Feedback, mit Abstand. Schön, dass du das für dich so rausziehen konntest! 🙂
Viele Grüße
der Karsten
Hallo Karsten
Natürlich kenne ich das auch!
Spannender Artikel übrigens.
„Wenn du den Moment noch fühlst, siehst du nicht, was dein Foto zeigt“.
Deshalb habe ich mir schon sehr schnell daran gewöhnt, die Bilder im Normalfall erst Tage danach anzuschauen. Die gefühlte Magie ist doch meistens bereits verflogen oder ich spüre sie nicht mehr. Wohl deshalb lösche ich so viele Fotos danach? Das finde ich allerdings sehr deprimierend und ich wünschte, dass es nicht so wäre.
Eigentlich war mir bis jetzt noch gar nicht bewusst, dass es an die „verblasste Magie“ liegen könnte. Nämlich, dass dies der Grund sein könnte, dass ich so viele Bilder Tage später lösche. Weil sie einfach nichts-sagend sind.
Tja… danke für die Erklärung.
Bin aber doch nicht schlauer geworden.
Hast du ein Patentrezept? Nämlich, diese gewisse Distanz bereits beim Fotografieren aufrechtzuerhalten? Und nicht erst danach, wenn die Bilder bereits im Kasten sind? Wieviel Frust würde man sich doch sparen!
Freche Frage ich weiss… aber ein Versuch wert! 🙂
Liebe Grüsse aus Costa Rica
Alessandra
Hallo Alessandra,
deine „freche Frage“ ist nicht nur erlaubt – dafür blogge ich ja! 🙂
Was du beschreibst, kenne ich sehr gut. Dieses seltsame Gefühl beim späteren Betrachten: Man erinnert sich noch an den Moment, das Licht, den Wind, das Lachen – aber das Foto? Das zeigt … nichts davon. Und dann kommt der Frust. Manchmal sogar die Selbstzweifel.
Du fragst nach einem Patentrezept – und so eins gibt es natürlich nicht. Aber es ist immer gut, wenn du eine Bildidee vorab entwickelst. Und es gibt einen Trick, der für mich fast immer funktioniert:
Stell dir beim Fotografieren schon vor, wie das Bild auf jemand wirken soll, der nicht dabei war.
Nicht: Was fühle ich gerade?
Sondern: Was wird jemand sehen, der nichts dabei war?
Das erzeugt automatisch eine gewisse innere Distanz – so, als würdest du dir selbst beim Fotografieren zuschauen. Du ziehst dich ein Stück aus der Emotion raus und denkst wie ein Gestalter, nicht wie ein Beteiligter.
Das klappt nicht immer perfekt – aber erstaunlich oft. Und mit der Zeit wird es immer leichter.
Noch ein Gedanke: Die Fotos, die du später löschst, sind nicht immer schlecht. Vielleicht sind sie einfach nur „nicht so stark, wie der Moment war“. Und das darf sein. Du hast etwas erlebt – das ist real. Das Foto muss nicht immer mithalten können.
Danke für deinen offenen Kommentar. Genau solche Kommentare machen diesen Blog für mich zu einem Ort, der auch für inspirierend ist.
Herzliche Grüße nach Costa Rica,
der Karsten
Hallo Karsten,
nachdem ich deinen Artikel und viele Kommentare der Fotografen gelesen bin ich um mindestens eine Erkenntnis klüger geworden: Der 2. Blick. Was wollte ich zeigen, was ist zu sehen? Ich forste jetzt meinen Fotobestand durch, werfe den 2. Blick drauf und stelle fest, dass viele Fotos immer wieder das Gleiche zeigen: Sonnenuntergang, Strand, Wald, Wiese, Landschaft ….. Oft sind sie beliebig und austauschbar. Für mich geht es jetzt erst mal ans Aufräumen. Dabei soll es aber nicht bleiben. Was mir fehlt ist diese Distanz beim Fotografieren. Ein Motiv berührt mich und wird fest gehalten. 3 Tage später ist das Motiv Schnee von gestern. Es stellt sich für mich die Frage, wie ich bereits beim Fotografieren distanziert sehen kann!?
Herzliche Grüße
Wini
Nachtrag: Der Kommentar zu Allessandras „frecher“ Frage helfen mir sehr.
Irgendwie lässt mich dieser 2.Blick nicht los. Liegt es vielleicht auch an der technischen, hier digitalen Entwicklung in der Fotografie?
Zu analogen Zeiten bin aus einem 3-wöchigen Urlaub ich mit maximal 10 36er Filmen (eher weniger) wieder nach Hause gefahren. Bei jedem Foto hab ich 3 Mal überlegt, ob ich den Auslöser drücken soll, kontrolliert, ob die Einstellungen passen. Heute bin ich 2 Wochen unterwegs und habe mehr als 1000 Fotos im Kasten. Man drückt vielleicht zu schnell, zu unbedacht auf den Auslöser: Es kostet nicht mehr, ob ich nur 1 Foto oder 20 vom gleichen Motiv mache, es wird schon ein tolles Foto dabei sein; in der Serienbildfunktion hoffe ich, den passenden Moment eingefangen zu haben.
Tja, das wollte ich noch los werden. Die analogen Zeiten hatten auch ihre guten Seiten, oder?
Herzliche Grüße
Wini
Hallo Wini!
Die Sache mit dem zweiten Blick ist so simpel und gleichzeitig so mächtig. Gerade wenn du merkst, dass sich viele Motive in deinem Archiv ähneln, ist dieser neue Blick eine riesige Chance: Nicht nur zum Aufräumen – sondern auch, um dir selbst auf die Schliche zu kommen. Was interessiert dich wirklich? Was willst du eigentlich zeigen?
Du hast völlig recht: Die analoge Zeit hat gezwungen, bewusster zu fotografieren. Es gab eine natürliche Bremse – technisch, finanziell, aber auch emotional. Und die fehlt heute oft. Man kann ja einfach mal draufhalten – aber was dabei rauskommt, ist oft beliebig. Du sprichst das sehr treffend an.
Und genau deshalb ist die bewusste Entscheidung heute so wertvoll wie nie. Der digitale Überfluss macht es nicht leichter – sondern erfordert mehr Klarheit. Mehr Distanz beim Fotografieren. Und ja, das ist schwer. Weil das Gefühl oft zuerst kommt – und wir im Überschwang auslösen.
Was dir helfen kann, um während des Fotografierens etwas mehr Distanz zu bekommen:
• Stell dir vor dem Auslösen die Frage: „Wenn ich das Bild in drei Tagen sehe – weiß ich dann noch, was mich berührt hat?“
• Oder noch radikaler: „Wenn ich das Bild einem Fremden zeige – ohne Erklärung –, spürt er dann, was ich gemeint habe?“
Das sind Mini-Stoppzeichen für den Kopf – ganz ohne das Gefühl zu ersticken.
Und ja, die analoge Schule ist da manchmal die bessere: Lieber ein Bild mit Bedeutung als 100 ohne Seele.
Ich freue mich, dass du so offen teilst, was dich beschäftigt. Gerade solche Gedanken bringen einen wirklich weiter.
Herzliche Grüße
der Karsten
Hallo Karsten.
Danke für den Artikel.
Ich habe schon mal in der InspiClass erwähnt, daß ich sehr viele Bilder weghaue. Oft sehr schnell, manchmal später. Vielleicht könnte es ja auch umgekehrt funktionieren – und beim dritten Blick gefällt es mir doch wieder besser als zuvor? Dann könnte ich manchen Bildern zumindest noch die Chance meines dritten Blickes geben, bevor sie in den Papierkorb wandern. Welches Bild mich wie anspricht hängt doch auch manchmal mit meiner eigenen Stimmung zusammen – ähnlich wie beim Lesen von Gedichten, besonders Kästner, wo ich an manchen Tagen in Tränen und, beim Lesen desselben Gedichtes, an anderen Tagen in Lachen ausbreche… – Also wie stelle ich als Subjekt eine gewisse Objektivität (Distanz) bei der Auswahl meiner Bilder her? Ich bin gespannt auf den den nächsten DeepDive-Kurs 🙂
Sehr viele Bilder werden auch gar nicht erst gemacht, weil ich schon vorher weiß/glaube, das gesehene Gefühl nicht auf ein Foto bannen zu können. Sicher sollte ich es aber zumindest versuchen, wäre ja auch ein Lernprozeß, wenn ich am Ende anhand des Bildes rausfinden kann, woran es denn nun wirklich scheitert (oder möglicherweise letztlich doch geglückt ist)
Ja, häufig komme auch ich bei meinen Fotos nicht auf den Punkt. Ich will auch oft „alles“ zeigen, statt mich nur auf das eigentliche Motiv zu konzentrieren. Ich tue mich schwer, rauszufinden, ob/was dem Motiv drumrum gut tut oder was nicht – den richtigen Ausschnitt zu finden (ach – da, der Baum ist doch schön als Rahmen, und die Blümchen auf der linken Seite – welch ein toller Farbfleck, und die schöne Wolke muß doch unbedingt auch noch mit rauf – und schon ist mein Motiv, der Stapel mit Baumstämmen, überfrachtet, auf den zweiten Blick gesehen)
Oft schneide ich später radikal. Das zeigt mir natürlich auch, daß eigentlich keine Bildidee, sondern „nur“ ein Gefühl da war.
Aber ich merke, daß ich im Prozeß bin. Ich versuche, mich mehr und mehr bewußt auf mein eigentliches Motiv zu fokussieren. Ich mache z. Bsp. erst das Bild mit allem Drumrum, so wie ich es typisch für mich ist, dann noch mal ein „untypisches“ mit mehr Konzentration aufs Hauptmotiv und gehe dann in die Bildkontrolle und vergleiche… Bin manchmal ich da schon erstaunt, wie viel intensiver und aussagekräftiger das andere Bild ist.
Aber es fühlt sich beinah an wie ein Loslassen/Abschied, da ich ja all das Schöne, das ich doch auch noch sehe, „opfern“ muß. Aber das ist ja wohl letztlich Fotografieren…
Es ist ein interessantes und für mich sehr relevantes Thema. Freue mich auf mehr Input beim nächsten „Eintauchen“
So, nu haste auch meine Gedanken dazu 😉
Viele Grüße von Petra
Hallo Petra,
was für ein durchdachter und ehrlicher Kommentar – danke dir dafür!
Du hast da gleich mehrere ganz zentrale Fragen aufgeworfen, die viele ernsthafte Fotograf:innen beschäftigen:
1. Der dritte Blick – und die wechselnde Wirkung von Bildern:
Ja, absolut! Die eigene Stimmung spielt eine riesige Rolle bei der Bildauswahl. Manchmal kann ein Bild, das du zunächst als „beliebig“ abgetan hast, Wochen später auf einmal eine Tiefe entfalten – oder plötzlich genau das ausdrücken, was du gerade fühlst. Deshalb ist es oft keine gute Idee, *alle* Bilder sofort zu löschen. Manchen Bildern tut eine zweite oder dritte Chance gut. Und manche wachsen mit der Zeit.
2. Wie stellt man als Subjekt eine gewisse Objektivität her?
Die kurze Antwort: gar nicht.
Aber du kannst lernen, bewusster zu sehen – mit Abstand, mit Kontext, mit Feedback. Genau deshalb liebe ich die Bildbesprechungen in der Inspiclass oder die Aufgaben der Workclass so sehr: Sie helfen, den Blick von außen zu simulieren. Auch Rituale wie „erstmal 3 Tage warten“ oder „Zweitbetrachtung nur in Schwarzweiß“ können dabei helfen, sich selbst auszutricksen.
3. Das Dilemma beim Fotografieren: Alles zeigen oder loslassen?
Das ist vielleicht die größte Hürde in der Bildgestaltung: zu verstehen, dass alles zeigen wollen am Ende nichts zeigt.
Dass du bewusst zwei Bilder machst – eines mit „allem“ und eines mit Fokus – ist eine hervorragende Strategie! Der bewusste Vergleich schärft deinen Blick, und du lernst mit der Zeit immer besser, schon beim Fotografieren klarer zu sehen.
Und ja: Es fühlt sich an wie ein Abschied, wenn man das „Drumherum“ opfert. Aber genau darin liegt die Kraft des Mediums: Entscheidungen treffen. Weglassen. Verdichten. Oder wie du es so treffend formulierst: *„Das ist ja wohl letztlich Fotografieren.“*
Aber: Du kannst du ja aus jedem einzelnen Element des Drumherrums viele tolle Einzelbilder machen – und so viel mehr tolle Bilder machen! 🙂
Ich freu mich auf deinen nächsten DeepDive – und auf deine weiteren Gedanken!
Viele Grüße
der Karsten